Dienstag | 30. April
19:30 Uhr | HMTMH | Richard Jakoby Saal
Neues Haus 1| 30175 Hannover
ELISION – Choreografische Virtuositäten 2
ELISION Ensemble
ELISION Ensemble
Die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover trägt zum Klangbrückenfestival 2024 mit zwei Konzerten des internationalen, in Australien beheimateten Ensembles ELISION bei. Es handelt sich zugleich um die Antrittskonzerte von Aaron Cassidy, der seit Februar 2023 als Professor für Komposition und Direktor des Incontri – Institut für neue Musik an der HMTMH tätig ist und das hervorragende Ensemble für zeitgenössische Musik, mit dem er seit fast 20 Jahren kooperiert, vorstellen wird. Im ersten Konzert sind Solo- und Duokompositionen zu hören, im zweiten Konzert Ensemblestücke mit fünf Uraufführungen, darunter drei Werke aus der Incontri-Kompositionsklasse an der HMTMH. Das diesjährige Klangbrückenmotto „Sichtbare Musik“ findet seinen Niederschlag auf der Ebene physikalischer und gestischer Choreographien, die bei performativer Aktivität entstehen und sich in Skalen von Sichtbarkeit in der Notation und bei der Klangerzeugung manifestieren.
ELISION Ensemble
James Aylward, Fagott
Joshua Hyde, Saxophon
Benjamin Marks, Posaune
Carl Rosman, Klarinette
Kathryn Schulmeister, Kontrabass
Peter Veale, Oboe
Alex Waite, Klavier
Aaron Cassidy, Dirigent
Daryl Buckley, künstlerischer Leiter
ELISION ist Australiens führendes Ensemble für zeitgenössische Musik, allerdings leben die derzeit 17 Mitglieder des Ensembles weltweit versprengt. Das international renommierte Ensemble ist auf die Interpretation komplexer, virtuoser und äußerst anspruchsvoller Werke spezialisiert, in denen musikalische Grenzen ausgelotet und erweitert werden. Die Arbeit des Ensembles setzt die Auseinandersetzung mit innovativen Konzepten, Notationen, Spieltechniken und Ästhetiken voraus und findet häufig in interdisziplinären oder transkulturellen Kontexten statt. ELISION hat im Rahmen von über 50 Tourneen in 22 verschiedenen Ländern mehr als 800 neue Werke in Auftrag gegeben.
Aaron Cassidy, der das Ensemble in diesem zweiten Konzert der HMTMH dirigiert, arbeitet mit ELISION seit fast 20 Jahren eng zusammen. Er ist seit Februar 2023 als Professor für Komposition und Direktor des Incontri – Institut für neue Musik an der Hochschule tätig. Mit den beiden Konzerten, die seine Antrittskonzerte an der HMTMH sind, gibt Cassidy einen Einblick in seine musikalische Arbeit und stellt das hervorragende Ensemble erstmals dem Klangbrücken-Publikum vor. Thanos Sakellaridis, Farhad Ilaghi Hosseini und Tom Bañados, die drei Uraufführungen beisteuern, studieren Komposition am Incontri.
Facettenreich wie die Energie von Menschenmengen, repetitiv, im Einklang oder im Kontrast, laut und leise, manchmal unabhängig, manchmal nicht... Fragmentiert, kleine Abschnitte, einer nach dem anderen, wie die Präsentation von Nummern in einem Zirkus. Jede „Nummer“ hat ihren eigenen Klangraum, ihre eigene Welt, ihre eigene Energie und interagiert mit den Nummern davor und danach. Einige Dinge können intakt bleiben, in die nächsten einfließen oder sie überlagern, sodass eine Reihe von Ereignissen entsteht, die das Gefühl vermitteln, dass Dinge durch Wiederholung wiederkehren, aber sich irgendwie so anfühlen, als würden sie ineinandergreifen und miteinander kommunizieren.
Im Mittelpunkt dieses Stücks stehen die klanglichen Verbindungen und Trennungen innerhalb des Ensembles; ein Dialog aus verbindenden und unterbrechenden Gesten, die in ihrem Charakter und ihren Qualitäten oft sehr kontrastreich sind. Obwohl das Saxophon in dem Stück als Solist auftritt, löst sich die Struktur von Solist und Ensemble häufig in fünf unabhängige und gleichberechtigte Stimmen auf, wobei jedes Instrument die Klangpalette und den Charakter des Dialogs erweitert und jedes Instrument seine eigenen einzigartigen Beiträge zur Gesamttextur beisteuert. Das Stück wechselt zwischen vertikalen und horizontalen Ansätzen des Ensembles, wird mal dicht und vielschichtig, mal eher linear, wobei sich die Instrumentallinien überlagern und miteinander verflechten. Arten von Bewegung und Geschwindigkeit sind ebenfalls von zentraler Bedeutung in dem Stück, wie der Titel andeutet, der die Bewegung des Wirbelns beschreibt, die in den Saxophongesten präsent ist und die das gesamte Ensemble gegen Ende des Stücks durchdringt.
Dieses Stück ist der Abschluss eines dreiteiligen Zyklus, wobei der erste Teil für Kornett und Posaunen und der zweite für ein Barockensemble und großes Orchester geschrieben wurde. Der letzte Teil ist für die zeitgenössischen Versionen der historischen Instrumente komponiert, die im zweiten Teil des Zyklus für das Barockensemble verwendet wurden. Indem Beziehungen zwischen Klang, Raum und Körperlichkeit aktiviert werden, vereint dieser Zyklus kollaborative Forschung, die parallel zu einer Studie initiiert wurde, um verkörperte Räume durch 3DAkustikmodellierung zu untersuchen. Dabei werden architektonische Strukturen adressiert, die nicht mehr existieren, und zwar die Basilika des hl. Johannes in Ephesus aus dem 6. Jahrhundert und die Kirche der Heiligen Apostel in Konstantinopel. Vor dem Hintergrund der Akustikstudie, die darauf abzielt, die klanglich-zeitliche Architektur von kontextualisierten Räumen nachzuverfolgen und zu visualisieren, ist die kollaborative Forschung der Versuch, sich mit den Bedingungen auseinanderzusetzen, die die Art und Weise prägen, wie das Konzept des Designs mit Verkörperung und Raum in Beziehung steht. Weiterhin befasst sich dieser abschließende Teil des Zyklus mit dem Instrumentendesign und dessen Beziehung zu Körper und Raum, nicht als Mittel, um eine fixe Vergangenheit mit einer fixen Gegenwart zu arrangieren, sondern vielmehr um nachzuzeichnen, wie gleichzeitige Vergangenheiten zeitgenössische Aufführungspraktiken beeinflussen. Das Phonem zwischen zwei Wörtern (c) ist dem ELISION-Freund Robin Kirkham gewidmet und wurde in Andenken an ihn von Amy und Emma Kirkham in Auftrag gegeben.
In der philosophischen Reflexion offenbart sich die Materie als ein faszinierendes Phänomen, das in einem komplexen Zusammenspiel von Raum und Zeit existiert. Raum als die unendliche Leinwand, auf der die Materie ihre Geschichte schreibt, und Zeit als der unsichtbare Fluss, der die Materie durch die verschiedenen Dimensionen des Seins trägt. In dieser kosmischen Choreographie wandern die Materien von einem Raum zum anderen, durchdrungen von den unterschiedlichen Zeitvorstellungen, die den Raum in verschiedene Atmosphären verwandeln. Diese Reise der Materie durch Raum und Zeit ist geprägt von ständiger Veränderung und Transformation, wobei die Materie sich kontinuierlich neu erfindet und sich den immer wiederkehrenden Fragen nach ihrer Existenz und ihrem Wesen stellt.
Es handelt sich um eine musikalische Sammlung fragmentierter ästhetischer Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Herbst, insbesondere mit Bäumen, aber auch mit einigen anderen Elementen. Diese werden durch ein übergreifendes Konzept von Divergenz und Konvergenz verbunden, das als hintergründige spirituelle Idee hinter dem Stück fungiert, aber auch auf konkretere Weise beschreibt, wie sich die musikalischen Parameter im Laufe der Musik entwickeln, indem sie diese verschiedene „Bilder des Herbstes“ durchlaufen. Der Titel bezieht sich auf eine bestimmte Erfahrung, die alle spirituellen/ästhetischen Ideen des Stücks verkörpert: Wenn man an einem klaren Tag einen flachen Teich betrachtet, kann man die Äste auf der Oberfläche sehen, aber auch die eigene Reflexion wirft einen Schatten, durch den man die Wurzeln am Boden des Wassers sehen kann. Auf diese Weise erlebt man in einem Augenblick beide „auseinanderstrebenden Enden“ eines Baumes durch ein einziges Bild, das um die eigene Reflexion herum konvergiert. (Diese spezielle Erfahrung fand an einem Teich in der Nähe der Hochschule statt.) Ein wichtiger Aspekt des Stücks ist, wie einige musikalische Ideen lange bevor sie tatsächlich entwickelt oder „sinnvoll werden“, präsentiert werden, was mit dem Thema der Konvergenz zu tun hat. Jeder Abschnitt repräsentiert außerdem ein unterschiedliches „Bild“; aber sie wechseln nahtlos zwischen einander, nur an einigen Stellen ist der Übergang hörbar.
Dieses Stück ist das erste von zwei Quartetten, die von Selbstporträts des Malers Gerhard Richter inspiriert sind. Zusammen mit dem zweiten Quartett Selbstporträt, 1996 bildet es die Werkgruppe A way of making ghosts. Das Richter-Werk, von dem das Stück seinen Titel hat, gehört zu einer Sammlung von sechs übermalten Fotografien, die im März 1991 entstanden sind. Im Gegensatz zu Richters vielen Selbstporträts habe ich hier keine vorhandenen Materialien verwendet/wiederverwendet, aber dieses neue Quartett stammt aus einem größeren Pfad in meiner jüngsten Arbeit, der darauf abzielt, einige der Räume neu zu untersuchen und neu zu nutzen, die ich in den letzten 20 Jahren oder so eröffnet habe. Es ist nicht so sehr eine Rückkehr oder Wiederverwendung, sondern vielmehr eine Art Herausforderung an mich selbst, eine Erinnerung daran, dass es noch unerledigte Dinge gibt, die ich in der Vergangenheit gemacht habe, und auch eine Anerkennung dafür, dass zwischen dem, was ich gemacht habe, und dem, was ich gemacht haben wollte, eine Kluft bleibt. Wie Richters Bild ist das Stück ein „Durcharbeiten“, ein „Wiederholen“, aber dann auch eine Tilgung dieser Materialien, und diese Tilgung ist ihre eigene Realität und ihr eigenes „Selbst“.
Texte: Tom Bañados, Mary Bellamy, Aaron Cassidy, Turgut Erçetin, Farhad Ilaghi Hosseini, Thanos Sakellaridis; Übersetzung und Redaktion: Imke Misch