© Lauren Murphy

Sonntag | 28. April

19:30 Uhr | HMTMH | Kammermusiksaal
Plathnerstraße 35 | 30175 Hannover

ELISION – Choreografische Virtuositäten 1

ELISION Ensemble

Programm
Nur Abendkasse | 5 € (Studierende u. a. frei)
Eine Veranstaltung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Programm

Die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover trägt zum Klangbrückenfestival 2024 mit zwei Konzerten des internationalen, in Australien beheimateten Ensembles ELISION bei. Es handelt sich zugleich um die Antrittskonzerte von Aaron Cassidy, der seit Februar 2023 als Professor für Komposition und Direktor des Incontri – Institut für neue Musik an der HMTMH tätig ist und das hervorragende Ensemble für zeitgenössische Musik, mit dem er seit fast 20 Jahren kooperiert, vorstellen wird. Im ersten Konzert sind Solo- und Duokompositionen zu hören, im zweiten Konzert Ensemblestücke mit fünf Uraufführungen, darunter drei Werke aus der Incontri-Kompositionsklasse an der HMTMH. Das diesjährige Klangbrückenmotto „Sichtbare Musik“ findet seinen Niederschlag auf der Ebene physikalischer und gestischer Choreographien, die bei performativer Aktivität entstehen und sich in Skalen von Sichtbarkeit in der Notation und bei der Klangerzeugung manifestieren.

ELISION Ensemble

Joshua Hyde, Saxophon
Benjamin Marks, Posaune
Carl Rosman, Klarinette
Kathryn Schulmeister, Kontrabass
Peter Veale, Oboe
Alex Waite, Klavier
Künstlerische Leitung: Daryl Buckley

Musik ist zwar in erster Linie Klangkunst für die Ohren, doch gerade bei Live-Aufführungen von Instrumentalmusik spielt immer auch das Auge mit: Interpret*in und Instrument ziehen die Blicke des Publikums auf sich, wenn Tasten, Saiten, Klappen, Korpus oder Bogen, aber auch Hände, Finger und Lippen sichtbar in Aktion sind, um die Musik zum Erklingen zu bringen. Musikalische Darbietung ist in vielfacher Hinsicht ein physikalischer Akt, bei dem Atem, Körper und Gesten Klangliches hervorbringen. Für die Hörer*innen unsichtbar bleibt in der Regel der Notentext, obwohl er die wichtigste Voraussetzung darstellt, um die Ideen der Komponist*innen in Musik zu übersetzen.

Das diesjährige Klangbrücken-Motto fokussiert den komplexen Aspekt musikalischer Sichtbarkeit. Aaron Cassidy, der seit 2023 Professor für Komposition an der HMTMH ist und sich mit diesem ersten von zwei Antrittskonzerten musikalisch vorstellt, ist im Besonderen dazu berufen, das Thema zu präsentieren, denn seit über 25 Jahren konzentriert er sich in seiner kompositorischen Arbeit auf die Entwicklung einer speziellen Notation, die mehrfarbig und graphisch gestaltet ist. Herkömmliche Darstellungsweisen von Noten, Rhythmen, Dynamiken und anderem sind ersetzt durch mehrschichtige Tabulaturen, die körperliche und mechanische Dimensionen der Klangerzeugung abbilden. Physikalische Qualitäten wie Geste, Form, Artikulation oder Klangfarbe stehen im Vordergrund und sind bewusst ins Experiment der kompositorischen Praxis und musikalischen Interpretation eingebunden. Über Cassidys Notationen lassen sich mehrdimensionale choreographische Aktionen darstellen, deren Rhythmik nicht von regelmäßigem Pulsieren geprägt ist, sondern von der bewegten Dynamik physischer Prozesse.

Musikalisch und technisch höchst anspruchsvolle „choreografische Virtuositäten“ führt das ELISION Ensemble im ersten der beiden HMTMH-Konzerte in Form von Solos oder Duos auf. Vier Werke Cassidys umrahmen dabei Kompositionen von Kolleginnen und Kollegen, mit denen Cassidy über das Ensemble, seine Lehrtätigkeit und seine Arbeit als Dirigent seit vielen Jahren verbunden ist.

Aaron Cassidy
»Because they mark the zone where the force is in the process of striking«

(or, Second Study for Figures at the Base of a Crucifixion) (2008) für Posaune

Richard Barrett
»splinter« (2018–22)

für Kontrabass (Deutsche Erstaufführung)

Evan Johnson
»contemptus mundi« (2020–21)

für Klarinette in C und Klavier (Deutsche Erstaufführung)

Golnaz Shariatzadeh
»Machine euphoria« (2020)

für Oboe (Deutsche Erstaufführung)

Aaron Cassedy
»The wreck of former boundaries« (2016)

für Saxophon (Deutsche Erstaufführung)

PAUSE

Aaron Cassidy
»The wreck of former boundaries« (2015)

für Kontrabass (Deutsche Erstaufführung)

Liza Lim
»The Green Lion Eats the Sun« (2014)

für Doppeltrichter-Posaune

Einar Torfi Einarsson
»Other proportions: rough path by extinction (virgula ligatura)« (2022)

für Saxophon und Klavier (Deutsche Erstaufführung)

Aaron Cassidy
27. Juni 2009 (2021)

für Es-Klarinette


Das erste Solo für Posaune von 2008 mit dem Titel „Because they mark the zone where the force is in the process of striking“ ist inspiriert von Bildern des Malers Francis Bacon (1909-1992), den Three Studies for Figures at the Base of a Crucifixion (1944). Cassidys Werktitel ist ein Zitat aus dem Buch Francis Bacon: Logik der Sensation des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995). Als Werkkommentar hat Cassidy der Musik weitere Zitate daraus zur Seite gestellt, in denen es im Hinblick auf die zumeist deformiert dargestellten menschlichen Körper und Gesichter in Bacons Bildern um Bewegung, Dynamik, Energie, Kraft, Transformation und Materialität geht, was vergleichbar auch in der Musik eine Rolle spielt.

In den beiden Versionen für Saxophon und Kontrabass von „The wreck of former boundaries“ spiegelt sich Cassidys Faszination für „Kurven, Bögen, Blasen und Schäume“ in der Körperlichkeit und Energetik der Klänge: „Diese Arbeit ist skulptural, malerisch, reaktiv und emergent … Das Material biegt sich und schleift, wackelt und zieht, flackert und schwankt, springt und dreht sich, gurgelt und windet sich“, so beschreibt Cassidy das Klanggeschehen.

Mit der Komposition „27. Juni 2009“ schlägt Cassidy wieder einen engeren Bogen zur bildenden Kunst, und zwar zu Bildern von Gerhard Richter (*1932), denen übermalte Fotos zugrunde liegen. Eines dieser Bilder ist auf den 27. Juni 2009 datiert. Es handelt sich um ein Portrait, von dem nach dem Übermalen nur noch ein winziger Ausschnitt eines Auges unter den aufgetragenen Farbschichten unverändert sichtbar geblieben ist. Ähnlich wie bei Richters Bild geht es im Solo der Es- Klarinette um die Idee der Schichtung von gegensätzlichen Materialien, Strukturen, Formen und Energien. Ein spezieller Aspekt von Sichtbarkeit betrifft die Handhabung des Instruments: In der Partitur gibt es für jeden Finger eine eigene Schicht, um die Aktivität zu beschreiben, daneben detaillierte, häufig wechselnde Angaben für die Bewegungen des Mundes, der Zähne, des Mundstücks und die Formen des Atems.

„splinter“ für Solokontrabass von Richard Barrett ist zwar herkömmlich notiert, stellt aber nicht zuletzt wegen der komplexen rhythmischen Informationen höchste Anforderungen an die intellektuelle Durchdringung, technische Ausführung und musikalische Gestaltung des Stückes. Der Titel „Splitter“ oder „Splittern“ lässt sich auf die fein ziselierten, kleinräumig variierten Rhythmen beziehen, auch auf fragmentierte Gesten, die glissandierend und auf Mikrointervallen basierend durch den musikalischen Raum springen, sowie auf schnelle Farbwechsel, die Doppelgriffe, Multiphonics oder ungewöhnliche Spieltechniken auf dem Griffbrett des Kontrabasses nutzen. Inmitten der präzise notierten Ereignisse gibt es kurze Passagen der Unbestimmtheit, die beim Spiel zu improvisatorischer Erkundung von Dauern oder Farben auffordern. splinter ist zugleich selbst ein kleiner Teil eines größeren Werkkonglomerats.

Evan Johnsons Duo für Klarinette und Klavier „contemptus mundi“ entstand 2020/21 als Auftrag des ELISION Ensembles. Auch Johnsons Notation ist äußerst unkonventionell und stellt hohe Ansprüche an die spieltechnischen Fähigkeiten der Interpret*innen. Für Evans sind die Körperlichkeit des Aufführungsaktes und die Choreographie der klanglichen Expression von besonderer Bedeutung: „Verschiedene Geometrien der Ekstase: eine sich ständig verschiebende, aber immer unkontrollierbare Gewalt. In diesem relativ kurzen Stück kommt nichts zur Ruhe: Es ist ein ständiges Vorwärtsstolpern von Druck zu Druck, manchmal nach innen und unten, manchmal nach oben und außen; gegen die Stille oder gegen die Lungen oder gegen die Tasten oder gegen die Auflösung oder gegen die vergehende Zeit; aber die Oberfläche ist immer instabil und der Drang zum durchdringenden Impuls ist unwiderstehlich. In diesem Stück geht es um verschiedene Arten von Druck.“

Golnaz Shariatzadeh ist eine interdisziplinär arbeitende Künstlerin, die Klang immer mit Bildern zusammendenkt. Die Idee zur Komposition „Machine euphoria“, das in einer Fassung für Sopransaxophon uraufgeführt wurde und nun in der Oboenversion zu hören ist, vermittelt einen Eindruck von der phantastischen Imagination, die Shariatzadehs künstlerisches Denken prägt: „Machine euphoria wurde von einem Traum inspiriert, in dem ich eine riesige Maschine inmitten einer Wüste sah. Diese Maschine bestand aus glänzenden Metallen mit seltsamen, fleischähnlichen Texturen. Ich wusste, dass sie die Energie der Sonne in extreme Emotionen umwandelte, denn nur so konnte die Maschine weiterarbeiten.“ In den plastischen Klangformationen ihrer Musik meint man ganz unmittelbar die metallenen Geräusche der Maschine im Betrieb ebenso wie das gleißend-helle Licht der Sonne zu hören.

Bunt und phantasievoll klingt auch der Titel von Liza Lims Komposition. „The Green Lion Eats the Sun“ ist allerdings keine Erfindung der Gegenwart, sondern ein symbolisches Bild der klassischen Alchemie. Der grüne Löwe verkörpert dabei aqua regis, das „Königswasser“, ein Gemisch aus Salzsäure und Salpetersäure, das die ‚königlichen‘ Edelmetalle Gold und Platin aufzulösen vermag. Der grüne Löwe steht daneben für die in allen Stoffen wirksame Ursubstanz, als Grundlage für den Stein der Weisen. Die Doppeltrichter der Posaune ermöglichen es, musikalisch gegensätzliche Klangwelten auszuloten. Bisweilen klingen Ereignisse durch die Dämpfung des einen Trichters wie ferne Echos dessen, was aus dem ungedämpften Trichter erklingt. Auch andere dialogische Strukturen werden in dem Stück erforscht, etwa indem an einigen Stellen Laute ins Instrument gesprochen werden, die als kommunikativer Akt, aber nicht als Sprache verständlich sind.

Mit der Komposition „Other proportions: rough path by extinction (virgula ligatura)“ für Saxophon und Klavier dokumentiert Einar Torfi Einarsson seine aktuell wichtigsten kompositorischen Interessen: experimentelle Notation und nichtlineare Strukturen, die keine zielgerichtete Entwicklung verfolgen. „Andere Proportionen“, die unruhigen, kleinräumigen rhythmischen Prozesse, die den Klavierpart vor allem zu Beginn kennzeichnen, könnten damit gemeint sein, aber auch der „holprige Weg durch Auslöschung“, den die Musik in ihrem nicht-linearen Verlauf beschreitet. Die Parenthese virgula ligatura verweist hingegen auf die musikalische Notation des Mittelalters und schlägt so den Bogen von der Gegenwart zurück zur Tradition. Vielleicht ist sie es, die sich nicht ganz ‚auslöschen‘ lässt?

Text Imke Misch

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